KEKSE FÜR ALLE
Hallo ihr Lieben,
auch Bücher sind Produkte, wenn ich hier im Blog auch eher weniger über solche Berichte. Heute komme ich aber zu einem "Produkttest" der ungewohnteren Art, einer Rezension - das Buch, das ich euch vorstellen möchte hat mich sehr beeindruckt, das möchte ich euch nicht vorenthalten. Ich bin aber auch keiner/m Nichtleser(in) böse, wenn er/sie lieber auf meinen nächsten Beauty-Bericht wartet. ;-)
In den letzten Monaten komme ich so wenig zum Lesen von
Büchern, dass ich mich schon lange nicht mehr bei vorablesen.de beteiligt habe
– den Leseratten unter euch muss ich diese Plattform, die gratis Leseexemplare
für Rezensionen vergibt sicher nicht vorstellen. Den Newsletter bekomme ich
aber immer noch regelmäßig und vor ein paar Wochen stieß ich auf einen Titel,
der mein Interesse weckte: '''„Sechs Millionen Kekse im Jahr“''' hörte sich
nach einer lustigen, vielleicht etwas skurrilen Geschichte an und so etwas kann
ich derzeit als Lektüre sehr gut gebrauchen.
Also schaute ich mir die Beschreibung bei vorablesen an -
wie erstaunt war ich aber, dass es sich hier nicht um einen heiteren Roman
handelt, sondern um ein Sachbuch, in dem die Autorin Jessica Thom von ihrem
Leben mit dem Tourette-Syndrom erzählt. Wie es der Zufall wollte, hatte ich
einige Tage vorher im Nachtprogramm (Spiegel TV, Planetopia etc. – genau weiß
ich es nicht mehr) einen Bericht über Menschen mit genau dieser neurologischen
Störung gesehen. Ich war also mehr als neugierig geworden und gab meinen
Leseeindruck in der Hoffnung ab, nach meiner langen Abwesenheit das Glück zu
haben, dieses Buch lesen zu dürfen. Ihr ahnt es: ich hatte Glück :-)
WAS ICH BISHER WUSSTE
über dieses Syndrom war nicht viel und sicher das, was die
meisten Menschen wissen.
Tourettler haben Tics, sowohl verbale als auch motorische.
Sie sagen Dinge, die sie eigentlich bewusst gar nicht sagen wollen und die in
keinen Zusammenhängen zu einem Gegenüber oder einer Situation stehen, wobei da
üble Flüche und ordinäre Ausdrücke nicht die Seltenheit sind. Sie zucken mit
dem Kopf oder schlagen mit den Armen um sich und können das nicht steuern.
Das Syndrom wurde nach dem französischen Arzt Gilles de la
Tourette benannt, der die Symptome als erster wissenschaftlich untersuchte und
beschrieb.
Alle weiteren Fakten, die ich nun noch erwähne habe ich nach
dem Lesen bei Wikipedia nachgeschlagen: Tourette beschrieb seine Beobachtungen
erstmals bereits um 1885, seine Arbeit geriet dann aber wieder in
Vergessenheit. Erst in den 1990er Jahren trat die Krankheit in Deutschland
wieder verstärkt in das öffentliche Interesse.
Die neuropsychiatrische Erkrankung wird immer noch erforscht,
da bis heute nicht klar ist, worauf die Störung basiert. Die Hauptsymptome
treten üblicherweise im Grundschulalter auf, verstärken sich oftmals in der
Pubertät und können dann wieder nachlassen. Die Mehrheit der Betroffenen muss
sich allerdings auf ein Leben mit Tics einstellen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass so mancher Exorzismus in
früheren Zeiten an Tourette-Patienten durchgeführt wurde.
JESSICA THOM
Jessica Thom - Foto auf dem Klappentext |
Ich habe lange gesucht und nicht das Geringste darüber gefunden,
wie alt genau sie ist. Ich schätze sie Ende 20, sie ist Britin und lebt in
London. Die erstens Tic traten bei ihr im Alter von ca. 6 Jahren auf,
diagnostiziert wurde die Krankheit aber erst, als sie 20 war. 2010 rief sie das
Projekt „Tourettes-Hero“ ins Leben - eine gemeinnützige Organisation, die „den
Humor und die Kreativität von Menschen mit Tourette in den Blick nimmt, ohne
dabei in Spott oder Selbstmitleid zu verfallen. Ziel dieses Projekts ist es,
das am häufigsten missverstandene Syndrom auf diesem Planeten transparent zu
machen und die Welt Tic für Tic zu verändern.“ (Quelle vorablesen.de)
Ihr Buch „Welcome to Biscuit Land: A Year in the Life of
Touretteshero” erschien 2012, die
deutsche Ausgabe “Eine Million Kekse im Jahr” am 9. April 2014 broschiert mit
220 Seiten im Verlag Hans Huber.
VIELE VIELE KEKSE
sind in diesem Buch.
Und viele, viele Sprüche, die zum total sinnfrei sind und einen oft zum
Schmunzeln bringen. Und so manche Obszönität,
vor der die Autorin aber gleich zu Beginn warnt: empfindliche Seelchen
sollen dieses Buch lieber nicht lesen…
dazu später mehr.
So sieht eine Seite vor einem Kapitel aus: Zeichnung von Jessica |
Den Inhalt wiederzugeben ist genauso simpel wie schwer: es
gibt keine fortlaufende Handlung wie in einem Roman. Man kann sich das Ganze so
vorstellen wie ein Tagebuch. Wir begleiten Jessica durch ein Jahr ihres Lebens
mit Tourette. Die einzelnen Monate entsprechen Kapiteln, auf einer ganzen Seite
wird der Monat genannt, dem Jessica jeweils einen verbalen Tic zuordnet und das
Ganze mit einer von ihr gemalten Zeichnung "verziert". Innerhalb
dieser Kapitel liest man Einträge, die fett überschrieben einen Tag, ein
bestimmtes Ereignis umfassen, aber ohne das typischen Datum eines üblichen
Tagebucheintrags dazu. Diese Einträge gehen mal über zwei Seiten, mal bestehen
sie nur aus wenigen Sätzen.
Azf diese Weise gut strukturiert und einfach zu lesen
skizziert Jessica Thom normale Tagesabläufe und Ereignisse wie die Arbeit im
Beruf, Unternehmungen mit Freunden, Pläne für einen Umzug, U-Bahnfahrten, die
Hochzeit der Schwester… für gesunde Menschen nichts Besonderes, für
Tourettekranke wie Jessica Herausforderungen mit unerwarteten Problemen aber
auch wunderbaren, ebenso unerwarteten Erfahrungen.
EINFACH BEWUNDERSWERT
wie Jessica mit ihren Defiziten umgeht, das war mein
durchgehender Eindruck. Ich bin ein sehr emphatischer Mensch (was nicht immer
so toll ist), aber selten hat mich ein Buch dieser Art so gefesselt und mit
gerissen und zwar mit den unterschiedlichsten Empfindungen.
Jessica als Touretteshero - Klappentext |
Die Autorin ist nicht auf Mitleid aus, sieht sich niemals
als Opfer des Schicksals oder der Umwelt. Sie schreibt weder mitleidheischend,
noch wütend, noch belehrend, sondern sie erzählt lediglich von ihrem Leben mit Tics. Sie berichtet
einfach, sie erzählt, was sie traurig gemacht hat und was sie freut. Einiges
davon hat mich sehr berührt, beeindruckt und zum Nachdenken gebracht:
1. Erschreckend
war nicht Jessicas Behinderung, sondern wie
aggressiv manche Menschen auf Ungewohntes reagieren und sich nicht
einmal in ihren Verhalten beeinflussen lassen, wenn sie Erklärungen erhalten.
Das ist wirklich traurig.
2. Unglaublich
schön fand ich, mit welchem wunderbaren Freundes- und Familienkreis Jessica
gesegnet ist, was sie auch zu schätzen weiß. Wer solche Freunde hat, den
brauchen Feinde nicht mehr zu kümmern und das ist etwas, das nicht jeder
gesunde Mensch unter uns sein Eigen nennen kann.
3. Wie
Kinder mit dem ungewöhnlichen Verhalten umgehen. Neugierig, aufgeschlossen,
dann auch liebevoll, zuvorkommend und sehr überlegt. Ich habe mich gefragt,
wann und warum sich diese Aufnahmefähigkeit des Andersartigen sich ändert?
4. Was ist
wirklich wichtig im Leben? Jessicas Welt bringt einen dazu, mal wieder darüber
nachzudenken.
Jessicas Humor ist einfach göttlich und sie betont auch
immer, dass es erlaubt ist, humoristisch geprägte Situationen mit einem Lachen
zu nehmen. Ihre verbalen Tics sind nun mal einfach oft zum Lachen und sie lacht
selber darüber. Eine andere Sache, die man eigentlich weiß, aber sich nicht
immer wirklich traut, wurde mir vor Augen geführt: man sollte lieber fragen,
als sich abzuwenden und und vielleicht sogar heimlich zu starren.
Was ich gar nicht wusste war, dass die Tics ganz extreme
Auswirkungen auf die Betroffenen selber haben können, je nachdem wie stark sie
sind. So schlägt sich Jessica permanent mit der rechten Faust vor die Brust,
was auf Dauer sehr schmerzhaft ist und ihre Hand blutig werden lässt – sie
findet eine Lösung dafür. Extreme Beintics zwingen sie in den Rollstuhl… ich
habe da dazu gelernt, ich dachte immer „Tourettes zucken halt ein bisschen“,
aber das kann sogar lebensgefährlich sein.
Ach ja, ich wollte noch einmal auf das Obszöne zurück
kommen, vor dem die Autorin ja vorab warnt. Ich bin nicht prüde, lege aber Wert
auf ein gewisses verbales Niveau. Ich habe jemandem im familiären Umfeld, mit
dem ich mich nicht gerne unterhalte, weil „Arschloch“, „Depp“ (und schlimmer)
etc. zum ganz normalen, häufig verwendeten Wortschatz gehören – dabei fühle ich
mich nicht wirklich wohl. Ich war also
gespannt, mit was ich in dem Buch konfrontiert werden würde.
Okay, Jessica tict schon manchmal, dass jemand ein Schaf
f…kt. Aber im Großen und Ganzen „kekst“ sie sehr viel (d.h. sie sagt
tatsächlich ca. 16mal in der Minute „biscuit“, im Buch übersetzt „Keks“), sie
sagt so seltsame Sätze wie „Ich bekämpfe meine Mutter in Rom“. Bei so manchem
modernen Autor frage ich mich, ob das wirklich cool ist, wenn auf jeder zweiten
Seite ein Wort wie A…och oder Fi…en
auftauchen muss. Da bin ich dann lieber „prüde“
als mir das anzutun.
Das wenige Ordinäre, das in Jessica Thoms Buch vorkommt hat
aber seinen Grund in ihrer Erkrankung und in diesem Zusammenhang erschien es mir auch interessanterweise auch
gar nicht als unangenehm. Wenn man also nicht gerade aus einem kontemplativen,
von der Welt abgeschnittenen Kloster kommt, dürften einen diese Passagen nicht
wirklich entsetzen – ich finde es toll, dass die Autorin warnt (genauso
übrigens wie auf ihrer Webseite, wo man beim Betreten in einem Popup darauf
hingewiesen wird und dann wählen kann, ob man wieder gehen will, die
Vollversion oder eine entschärfte mit Blockern besuchen will – echt der Hammer,
so etwas habe ich noch nie gesehen), aber eigentlich wäre es nicht nötig. Man
gibt dieses Buch ja nicht 10-Jährigen zu lesen.
ZUM ÄUSSEREN
eines Buchs sage ich
normalerweise nichts, weil für mich das nicht wichtig ist. Hier habe ich mich
aber geärgert und das muss ich loswerden – was hat sich der Verlag nur dabei
gedacht? Es handelt sich um eine broschierte Ausgabe, also quasi ein
Taschenbuch mit Innenklappe. Soweit so gut, das Format ist eine Spur höher als
bei einem Taschenbuch… aber der Falz und der Druck bis dahin ist heftig. Ich
knicke ein TB nicht komplett auf, sondern bin da eher zaghaft, damit nichts
aufbricht. Hier habe ich richtig mit Kraft teilweise den Falz aufgeknickt,
damit ich etwas bequemer lesen kann. Da bricht nicht mal was, das geht gar
nicht ganz eben auf. Eigentlich kein Problem, aber dann verwenden die zwar kein
Hochglanzpapier, aber doch ein etwas edleres, das im Licht glänzt. Meine
Nachttischlampe scheint etwas mehr von der Seite her statt von oben und das
spiegelte übel. Also musste ich das Buch abends im Bett dauernd drehen und
wenden – anstrengend.
Dazu der Preis: 24,95 Euro für ein broschiertes Buch? Das
zahlen wirklich nur extrem Interessierte. Mal ehrlich: ich hätte es nicht
gezahlt und bin sehr froh, dass ich es durch den Erhalt einer Gratisausgabe
nicht verpasst habe. Ich kann mir vorstellen, dass viele nur deswegen nicht
zugreifen werden und das hat dieses Buch wirklich nicht verdient.
Von daher mache ich jetzt auch ein Angebot: wer mein
Exemplar haben möchte – im PGB melden, der erste bekommt es.
WEITER GUCKEN
Mache ich bei wenigen Büchern, bei diesem hier konnte ich
nicht anders und schaute mir die Webseite von Jessica Thom an. Diese ist nicht perfekt und natürlich als
eine Webseite einer Britin ausschließlich auf Englisch, hat aber durchaus noch
den einen oder anderen zusätzlichen Aspekt zu bieten:
http://www.touretteshero.com/
Des Weiteren finde ich es sehr interessant, Jessica „live“
zu erleben und ihre Tics „live“ zusehen, Hierzu zwei Links mit Interviews bzw.
öffentlichen Auftritten von ihr.
FAZIT
Ich entschuldige mich vorab mal dafür, dass und wenn diese
Rezension nicht supergeordnet nach dem Schema „Biographie Autor – Inhalt –
Leseeindruck“ verlaufen ist. Dieses Buch passt in kein Schema, es kann sein,
dass ich Dinge zu erwähnen vergessen habe, die erwähnenswert gewesen wären, es
kann sein, dass ich mich an solchen festgehalten habe, die für manche Leser
uninteressant sind. Ich musste mich beschränken, ich hätte über dieses Buch und
was sich für mich durch die Lektüre daraus ergeben habt stundenlang reden
können.
Fakt ist, dass mich dieses Buch stark und sehr vielfältig
berührt hat, ich würde die Autorin und ihr Umfeld gerne persönlich kennen
lernen (was mir noch nie bei einer Lektüre passiert ist). Was bleibt da zum
Schluss übrig als eine Empfehlung mit vollen 5 Sternen?
Liebe Grüße
Eure Kerstin
Es ist eine fürchterliche Krankheit - und mit Krankheiten kann ich sowieso nicht gut umgehen. Alles tut mir gleich leid und besonders psychische oder neurologische Krankheiten, die den Menschen verändern, überschreiten meine Substanz. Ich glaube nicht, dass ich dieses Buch hätte lesen können. Aber deine Rezession ist der Hammer. Du hast ganz ganz toll geschrieben. Deine Sabine
AntwortenLöschenGeht mir eigentlich auch so, Sabine, aber bei diesem Buch nicht. Liegt sicher daran, dass Jessica so positiv mit allem umgeht. Liebe Grüße
LöschenHast ganz ganz toll geschrieben. Sehe täglich wie wertvoll Gesundheit ist !
AntwortenLöschenLg Margit
Danke, Sabine und Margit. Das Buch lag mir auch sehr am Herzen. LG Kerstin
AntwortenLöschenWünsche dir ein schönes Wochenende .
AntwortenLöschenLg Margit
Hallöchen Kerstin :-)
AntwortenLöschenWas soll ich sagen? Du hast für mich alles gesagt! Eine wunderbare Beschreibung dieses Buches und ein toller Eindruck, der hier bei mir entstanden ist. Ich finde Buchrezensionen super schwer zu schreiben und wage mich bislang noch nicht dran... Deine finde ich sehr gelungen und einfühlend.
Liebe Grüße, Sabine
Ach, Rezis zu schreiben ist nicht schwer - zumindest nicht, wenn mich ein Buch absolut mitreißt und etwas Besonderes hat oder eben total übel ist. Deswegen schreibe ich auch nicht über jedes, das ich lese. Danke schön :-) Liebe Grüße, Kerstin
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